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Wenn Kinder ihre Eltern sterben lassen

Nach Erdbeben, Krieg, Vertreibung: Traumatisierte Kinder erreicht Gesprächstherapie kaum. Ein italienischer Psychologe holt Kinder therapeutisch ins Leben zurück.

Kinder, sagt der Psychologe Claudio Mochi, können Traumata überwinden, wenn man sie spielen lässt.

"Die Kinder plappern, malen mit Fingerfarben und spielen mit Puppen und Spielzeugautos. Eine Ambulanz jault durch bunte Glasmurmeln auf dem Boden. Ein Haus ist eingestürzt. Es muss schnell gehen, sonst sterben Menschen. Dann kommen Puppen herbeigeeilt. Sie helfen jedoch nicht, sondern schießen auf die Verletzten unter dem Blauklotz-Haus, welches in Trümmern liegt" – so ist es, erzählt der italienische Psychologe Claudio Mochi, wenn Kinder im Gaza-Streifen spielen. Mit zu ihrem Spiel gehört: das Wegschaffen von Leichen, knatternde Maschinengewehre, gebrüllte politische Slogans.

Der 38-jährige Mochi spielt schon seit über zehn Jahren mit Kindern aus der ganzen Welt: in Pakistan, Iran, Palästina, Afghanistan und im Libanon.  Dazu bringt er alles mit, was nötig ist: Malbücher, Spielzeugautos, Barbies, Legosteine oder Knete.

Er schaut den Kindern über die Schulter, wenn ihre Matchbox-Autos aufeinanderprallen oder wenn wieder und wieder die Mama-Puppe tot zu Boden sackt. Falls ein Kind nicht mitspielt, ermuntert Mochi es. Er nimmt es mit in den Kreis der anderen Spielenden. "Oft lassen die Kinder die Geschichten sehr abrupt enden. So kontrollieren sie die Tragödie, die über ihre Puppen hereinbricht", erklärt Mochi.

Das ist der Kern seiner "Playtherapy", die der römische Psychologe an traumatisierten Kindern anwendet. Spielen die Kinder ihr Unglück noch einmal nach, können sie selbst bestimmen, an welcher Stelle ihnen geholfen wird oder wann sie aus ihrer Geschichte aussteigen. Die Kinder erlangen dadurch die Kontrolle wieder. Das ermöglicht ihnen, auch die Freude wieder ins Leben zu holen.

Reagieren Kinder im Libanon anders als in den Abruzzen, dort, wo das jüngste schwere italienische Erdbeben stattfand? Vergleichen kann Mochi die Kinder nicht, zu unterschiedlich sei das Leid und die Offenheit der Menschen gegenüber Psychologen. Doch eine Sache verbinde alle Menschen: Auf der ganzen Welt ist Spielen die natürlichste Sprache eines Kindes.

Mochi erklärt, dass es für alle traumatisierten Menschen – gerade wenn die durch ein Erdbeben ihre Wohnung verloren haben – einen sicheren Rückzugsort, ein Therapiezentrum geben sollte, das Sicherheit ausstrahlt. Mit Erdbeben-Opfern wie in Haiti kann das ein Zelt sein, in dem die Menschen darauf vertrauen, dass auch im Falle eines Nachbebens nichts auf sie hinunterstürzen kann. 

Die Spieltherapie unterscheidet sich deutlich von den üblichen Therapien nach Naturkatastrophen. Dort werden den Überlebenden stets Gespräche angeboten – in der Gruppe. Die Psychologen wenden sich an viele Menschen gleichzeitig, versuchen, Mut zu machen, das soziale Gefüge wiederherzustellen und Perspektiven für den Wiederaufbau zu schaffen, der irgendwann ohne Hilfe von externen Organisationen weitergehen soll. Auch Kinder versuchen die Psychologen dazu zu bringen, über das Erlebte und ihre Gefühle zu reden. Manchmal sollen sie Bilder malen, um später mit den Psychologen über das Gemalte zu reden.

Doch Gesprächstherapien und die sogenannten "community based"--Therapien stoßen bei traumatisierten Kindern schnell an ihre Grenzen. Mochi erklärt, dass die verbale Interaktion nicht in der Lage ist, die Gehirnareale des limbischen Systems zu stimulieren, die zur Überwindung eines Traumas aktiviert werden müssten. Gespräche können bei Stress sinnvoll eingesetzt werden, jedoch weniger zur Therapie von kindlichen Trauma-Patienten. Stress und Trauma werden nämlich von anderen Teilen des Gehirns verarbeitet. 

So entwickelte Mochi die Spieltherapie: "Ich lerne das Kind kennen und höre ihm zu, akzeptiere jede Rolle, die mir das Kind geben möchte. Wenn sich das Kind noch nicht öffnet, biete ich ihm von mir aus Spiele an. Wenn das Eis gebrochen ist, kann es darüber hinausgehen. Dann können wir den Prozess der Aufarbeitung der Ereignisse beginnen." Dabei geht es den Kindern meist zunächst darum, ihre Grenzen zu testen und mit den Psychologen ihre Kräfte zu messen. So beginnen sie wieder Kraft zu sammeln. Beim Spielen werden dann zerstörte Dörfer wieder aufgebaut oder nützliche Geräte gebastelt.

Im Spiel werden die Kinder wieder spontan, selbstbewusst und fühlen sich wohl. Denn das Kind hat die Kontrolle über die Geschehnisse im Spiel und gewinnt so auch wieder Lust daran, etwas in seinem Leben in die Hand zu nehmen. Es kann Spaß haben und dennoch einen Sicherheitsabstand einhalten zu dem, was gerade gespielt wird. Immer mehr traditionelle Therapeuten beginnen, Elemente dieser Spieltherapie auch in ihre Therapie einzubinden: Sie benutzen zum Beispiel Spielzeuge, wenn sie mit den Kindern reden. Der große Unterschied liegt dabei in der Handhabung des Traumas. Spielend kann die Tragödie überwunden werden. 

"Mir ist aufgefallen, mit welcher Natürlichkeit die Kinder von zerstörten Häusern erzählen oder von getöteten Eltern", sagt Mochi. Je kleiner die Kinder sind, desto mehr Platz ist noch für Fantasie, für die Perspektive, sich eine bessere Zukunft aufbauen zu können. Für Jugendliche ist es schon sehr viel schwieriger, ihr Trauma zu überwinden.

Hilfreich ist es, wenn die Mütter mithelfen, ihre Kinder verstehen zu lernen, deren Sprache und Ausdrucksformen beim Spielen zu deuten, in dem es sehr oft um Krieg, Tod und Superhelden geht. Die Psychologen versuchen dann mit den Müttern zusammen eine Perspektive für die Familie zu erarbeiten. "Leider ist es bei vielen meiner Kollegen so, dass sie ihre Therapie anwenden, als sei sie löffelweise einnehmbare Medizin" beklagt Mochi. Kern der Sache sei jedoch ein langfristiges Vertrauensverhältnis. Deswegen versucht er immer, seine Therapie von Einheimischen weiterführen zu lassen.

Mochi, der auch für das italienische Rote Kreuz im Bereich disaster intervention arbeitet, plant nun, nach Haiti zu gehen, um dort den Kindern zu helfen. "Ich schätze, dass 5 bis 10 Prozent der Kinder schwer traumatisiert sind und deswegen spezielle Hilfe benötigen."

Quelle (13.3.2010)

http://www.zeit.de/gesellschaft/familie/2010-03/katastrophen-traumata-kinder

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